Technologien
Juli 2023
Die dynamische Materialflusssimulation hat sich als leistungsfähiges Instrument zur Beherrschung komplexer Produktions- und Logistiksysteme in einem dynamischen industriellen Umfeld erwiesen. Sie dient dem Nachweis der Machbarkeit von Konzepten, der Validierung von Systemen sowie der Prüfung von Szenarien oder Ausbaustufen. Allerdings ist die Implementierung auch mit Aufwand und Kosten verbunden. Wie bei anderen Softwaretools kann eine dynamische Materialflusssimulation bei richtiger Anwendung zwar ein leistungsfähiges Werkzeug sein, bei falscher Anwendung in ungeeignetem Kontext aber auch viel Aufwand ohne grossen Nutzen erzeugen. Daher hängt es von der Einschätzung des Simulationsexperten ab, ob der Nutzen einer Simulation die Kosten der Implementierung überwiegt. Da Helbling in Projekten immer wieder mit dieser Herausforderung konfrontiert wird, hat das Unternehmen eine generische Simulationsumgebung entwickelt. Diese ermöglicht, einen möglichst hohen Nutzen aus der dynamischen Materialflusssimulation zu ziehen.
Wesentliche Treiber für den Einsatz von dynamischen Materialflusssimulationen
In Projekten zur Fabrikplanung oder Prozessoptimierung gibt es in der Regel zwei Haupttreiber für den Einsatz einer dynamischen Materialflusssimulation. Zum einen geht es um die Beherrschung der Komplexität von Systemen mit einer grossen Anzahl von dynamisch interagierenden Elementen, die mit statischen Berechnungen nicht mehr beherrschbar sind. Eine Materialflusssimulation ist in diesem Zusammenhang vergleichbar mit einem Navigationssystem im Auto: Es bringt keinen grossen Nutzen in einem kleinen Dorf, in dem alles vertraut ist, kann aber in unbekannten Grossstädten ein sehr hilfreiches Werkzeug sein. Der andere Treiber ist die Reduzierung von Risiken. Das trifft insbesondere in Projekten zu, die in der Regel verbunden sind mit hohen Kosten, die durch Fehler in der Umsetzung und im Betrieb verursacht werden können.
Doch je komplexer beziehungsweise risikoreicher ein Projekt ist, desto detaillierter ist normalerweise auch die erforderliche Granularität, die in einem Simulationsmodell berücksichtigt werden muss, um die relevanten Einflussfaktoren eines Systems mit angemessener Genauigkeit abzubilden. Und desto höher sind auch der Aufwand und die Kosten der Implementierung. Viele Unternehmen stehen daher vor dem Dilemma: Der Nutzen und damit der Bedarf für eine Simulation ist umso grösser, je höher der Aufwand für die Implementierung eines für das Projekt geeigneten Simulationsmodells ist..
Wie kann der Aufwand für die Erstellung einer Simulation reduziert werden?
Um den Implementierungsaufwand zu reduzieren und damit die Hürde für den Einsatz einer Simulation zu senken, insbesondere dort, wo sie am meisten Nutzen bringt, kann dieses Dilemma in der Regel durch Standardisierung gelöst werden. In einem mehr oder weniger stabilen Umfeld lässt sich dies recht einfach durch den Aufbau einer kundenspezifischen Bibliothek mit vorkonfigurierten Simulationsmodulen realisieren. Das wird jedoch sehr schwierig, wenn die Simulation in ständig wechselnden Kontexten in verschiedenen Projekten und Branchen eingesetzt wird. Wie können Simulationen also standardisiert werden, ohne die Flexibilität zu beeinträchtigen?
Standardisierung von Simulationsmodellen ohne Beeinträchtigung der Flexibilität
Wenn die spezifischen Funktionalitäten eines Bibliotheksobjekts selbst nicht harmonisiert werden können, ist eine Standardisierung all der Attribute und Schnittstellen möglich, die den Kontext eines Objekts in dem jeweiligen Simulationsmodell definieren. So kann jedes Objekt in einem Simulationsmodell, unabhängig von seiner spezifischen Funktionalität, durch seine generischen Eigenschaften bestimmt werden – von der Lage und Ausrichtung des Moduls bis hin zu seiner Verbindung mit anderen Objekten und seinen Schnittstellen zu Produktionsplanungs- oder Analysewerkzeugen. Auf diese Weise können die spezifischen Objekte einer Bibliothek selbst entsprechend den Projektanforderungen angepasst werden, während alles andere, was die Position und Interaktion eines Objekts in einem Modell definiert, standardisiert werden kann. Dies gilt, solange die Schnittstellen eines jeden Bibliotheksobjekts mit der generischen Simulationsumgebung kompatibel sind.
Eine solche standardisierte Simulationsumgebung ermöglicht es, ein Simulationsmodell als abstrakten Satz numerischer Daten (Stammdaten) auszudrücken. Umgekehrt kann ein Satz numerischer Daten zur Erstellung eines Simulationsmodells verwendet werden. Anstatt Simulationsmodelle selbst zu erarbeiten, hat Helbling auf der Basis kommerzieller Simulationssoftware eine generische Simulationsumgebung entwickelt. Diese ermöglicht verschiedene Standorte und Szenarien innerhalb derselben generischen Simulationsumgebung zu konfigurieren, ohne die Vorteile kundenspezifischer Bibliotheken zu verlieren. Wenn man Simulation nicht mehr in Form von Simulationsmodellen, sondern in Form von verschiedenen Konfigurationen einer generischen Simulationsumgebung denkt, ist das Modell selbst nur eine Kombination verschiedener standardisierter Bibliotheksobjekte, die von einem Algorithmus entsprechend den definierten Stammdaten erstellt werden.
Da alle Schnittstellen der einzelnen Module standardisiert sind, kann das Simulationsmodell von einem zentralen Satz von Algorithmen ausgeführt werden. Mit einem zentralen Satz von Analysetools ist die Auswertung oder der Export zur Weiterverarbeitung möglich. Die generische Simulationsumgebung kann auf verschiedene Anwendungsbereiche in der stückgutproduzierenden Industrie angewendet werden und wurde bereits in verschiedenen Branchen erfolgreich eingesetzt.
1. Modell definieren: Erstellen verschiedener Simulationsmodelle innerhalb einer generischen Simulationsumgebung
Bei genauerer Betrachtung enthalten die Stammdaten, die ein Modell in einer generischen Simulationsumgebung definieren, Informationen wie zum Beispiel:
- Position und Ausrichtung der einzelnen Objekte
- Intralogistische Verbindungen und Typen (z.B. Fördertechnik, Shuttles, AGVs, FTEs, Aufzüge usw.)
- Gebäudeinformationen und Grafiken
- Produktportfolio inkl. Stückliste für jedes Produkt
- Prozessparameter (z.B. Zykluszeit, OEE, etc.)
- Steuerungsparameter (z.B. Planungsparameter, Schichtkalender, etc.)
Das durch einen Satz von Stammdaten definierte Szenario kann in die generische Simulationsumgebung importiert werden. Durch einen Algorithmus werden die standardisierten Bibliotheksmodule automatisch zu einem Simulationsmodell kombiniert. Andererseits kann ein manuell erstelltes Simulationsmodell innerhalb der Simulationsumgebung als neuer Satz von Stammdaten gespeichert und exportiert werden. Auf diese Weise kann eine unbegrenzte Anzahl unterschiedlicher Standorte und Szenarien innerhalb derselben standardisierten Simulationsumgebung erstellt, verwaltet und ausgewertet werden. Neben Layout- und Produktinformationen ist auch möglich, 3D-Architekturmodelle in die Stammdaten zu integrieren. So wird das Simulationsmodell in seine architektonische Umgebung eingebettet und massstabsgetreu dargestellt.
2. Modell ausführen: Umgang mit einem sich ständig verändernden Umfeld
Nach der Erstellung des Simulationsmodells werden alle Bibliotheksmodule innerhalb des Modells durch einen zentralen Satz generischer Algorithmen gesteuert. Diese koordinieren die verschiedenen Aktivitäten wie Produktionsplanung oder Kapazitätszuweisung. Alle relevanten Informationen werden von den Stammdaten in die Bewegungsdaten übernommen, um die entsprechenden Informationen der Simulation über die standardisierten Kommunikationsschnittstellen fortlaufend zu aktualisieren und zu steuern. Doch wie navigiert man durch ein sich ständig veränderndes Netzwerk mit verschiedenen Typen von Intralogistiktechnologien wie Förderern, Shuttles, FTEs, AGVs oder Aufzügen?
Da alle Layout-Informationen in den Stammdaten vorhanden sind, kann das Netz nach den Prinzipien des «kürzesten Pfads» aus der Graphentheorie berechnet werden. Wie in modernen Navigationssystemen können bewegliche Einheiten durch das System navigieren, indem für jeden Punkt im Modell der kürzeste Weg auf Basis des Dijkstra-Algorithmus berechnet wird. Wenn sich die Art der Intralogistiktechnologie nicht ändert, können Standardfunktionen für die Navigation verwendet werden (automatisches Routing). Dies wird jedoch schwieriger, wenn der kürzeste Pfad aus verschiedenen Arten von intralogistischen Systemen besteht. Daher definiert der Algorithmus bei jeder Änderung der Transporttechnologie auf dem kürzesten Weg die jeweiligen Schnittstellen als Zwischenziele.
3. Modell-Ergebnisse: Bewertung und Überwachung der relevanten Informationen
Während und nach einem Simulationslauf stehen alle relevanten Informationen in den Bewegungsdaten für detaillierte Auswertungen zur Verfügung. Da jedes Modul seine eigenen Aktivitäten aufzeichnet, können alle Informationen über standardisierte Kommunikationsschnittstellen in einem zentralen Auswertungspanel mit verschiedenen Analysetools überwacht werden. Selbstverständlich können die Daten auch zur Weiterverarbeitung mit Excel, Python oder anderen Tools exportiert werden.
Zusammenfassung: Generische Simulationsumgebung minimiert Risiken und reduziert Kosten
Eine generische Simulationsumgebung erlaubt es, eine Vielzahl von Szenarien oder Ausbaustufen auf der Basis von standardisierten Kommunikationsschnittstellen zu erstellen, ohne die Flexibilität zu beeinträchtigen. Durch die Einführung einer generischen Simulationsumgebung unterstützt Helbling Kunden dabei, den Aufwand und die Kosten für die Implementierung neuer Simulationsmodelle und -bibliotheken deutlich zu reduzieren und die Qualität durch vorkonfigurierte und vorvalidierte Schnittstellen zu verbessern. Eine generische Simulationsumgebung entlastet den Entwickler von unproduktiven Programmiertätigkeiten. Das hilft, sich auf die wirklich wertschöpfenden Eigenschaften einer dynamischen Materialflusssimulation zu fokussieren.
Autor: Wolfgang Yorck
Hauptbild: Midjourney